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Gewalt ( Gast )
Beiträge:

26.08.2005 21:12
von Jochen eingestellt : Artikel aus der FR Antworten

URL: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/nachri...ion/?cnt=715666

Dieser Beitrag wurde von Jochen eingestellt

Alles ist möglich
Gewalt geschieht in einem sozialen Rahmen - es gibt keine natürliche Grenze des Handelns / Von Harald Welzer
Wie konnte es in den Völkermorden des 20. Jahrhundert geschehen, dass friedfertige Familienväter, gutmütige Nachbarn zu Massenmördern wurden? Harald Welzer beantwortet die Frage auf beunruhigend erhellende Weise.

Soziales Universum Waffen-SS (dpa)
Gesellschaftliche Institutionen- und Handlungsgefüge sind grundsätzlich als Speicher von Potenzialen zu verstehen, die je nach dem definierten Ziel, das verfolgt wird, ganz unterschiedliche Wirklichkeiten hervorbringen können. Insofern kommt es in der Frage nach den Täterinnen und Tätern und bei der Suche nach Erklärungen dafür, wieso sie tun konnten, was sie getan haben, ganz entscheidend darauf an, die Potentiale zu identifizieren, die ohnehin für die Öffnung kollektiver und individueller Handlungsspielräume in die eine oder andere Richtung vorliegen. Erst vor diesem Hintergrund macht es Sinn, darüber nachzudenken, ob es denn eigentlich so unerwartet, sonderbar oder unerklärlich ist, wie die Akteure ihren jeweiligen Handlungsspielraum auslegen und auswerten.

Am Beispiel der sexuellen Gewalt war gewiss am deutlichsten zu sehen, wie wenig weit entfernt das Handeln der Täter in Litauen, in der Ukraine oder in Weißrussland von dem war, was sie in einer Situation geringerer Macht und sexueller Verfügungsgewalt auch gern getan hätten oder - in kleinerem Maßstab - getan haben. Dasselbe gilt mutatis mutandis für die unendlich vielfältigen Bereicherungschancen und spaßgesellschaftlichen Aspekte, die die antijüdische Gesellschaft schon im Frieden, besonders aber im Krieg bot. Die Verlockung, sich persönliche Vorteile zu verschaffen oder eskapistischen Bedürfnissen nachzugehen, ist ja überhaupt nichts, was uns aus unserer pazifizierteren, harmloseren Wirklichkeit heraus fremd wäre.

Öffnen neuer Räume

Das gewöhnlich vielleicht noch harmlose oder nur in gesellschaftlichen Nischen tolerierte oder durch Sanktionsdrohungen eingehegte Bedürfnispotential ganz normaler Menschen kann sich unter neuen Umständen neu entfalten. Und das ganze Geheimnis, wieso es sich etwa im Nationalsozialismus so gegenmenschlich entfaltete, liegt in der überraschenden Öffnung sozialer Handlungsräume, in denen plötzlich erlaubt oder sogar gefordert war, was zuvor als verboten galt. Und damit komme ich zurück auf das Handeln der Direkttäter, das scheinbar so unerklärlich ist. Es ist das absolut Grauenhafte ihres Handelns, die Unmenschlichkeit, die wie ein undurchdringliches Raster vor der desto erschreckenderen Einsicht liegt, wie einfach diese Potentiale freizusetzen sind.

Dabei ist es zweifellos jeweils etwas anderes, ob ich die Straßenseite wechsele, wenn mir ein jüdischer Bekannter begegnet, weil ich fürchte, in eine peinliche Situation zu geraten, oder ob ich in die schöne Wohnung ziehe, aus der zuvor eine jüdische Familie getrieben wurde, oder ob ich den Tod eines Menschen durch eine Unterschrift unter ein ärztliches Formular anordne, oder ob ich Krematoriumsöfen entwerfe, oder ob ich den Karabiner am Hinterkopf eines auf den nackten Leichen seiner Eltern liegenden Kindes ansetze. All dies sind qualitativ verschiedene Stufen, die unterschiedlich schwierig zu überschreiten sind, aber ich fürchte, es handelt sich dabei am Ende um ein Kontinuum, an dessen Anfang etwas scheinbar Harmloses steht und dessen Ende durch die Vernichtung markiert ist. Es ist nur für die meisten von uns wichtig, die ersten überschritten zu haben, um die letzten überschreiten zu können.

Der Autor
Harald Welzer, Jahrgang 1958, ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen und Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdecke.

Er veröffentlichte Schriften zur Erinnerungs- und Tradierungsforschung, u.a. "Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis" (Frankfurt am Main: S. Fischer 2002) Der dokumentierte Beitrag ist ein Auszug aus seinem neusten Buch: "Täter". ber
Das Perfide liegt aber darin, dass uns beim Überschreiten der ersten Stufe die letzte noch ganz intolerabel erschiene, während es gute Gründe zu geben scheint, eben den ersten, nicht so schlimmen Schritt zu tun - und das ist vielleicht nur ein kleines Vergehen gegen eine ohnehin fragile innere Überzeugung, gegen ein moralisches unangenehmes Gefühl. Die Technik des Milgram-Experiments bestand ja exakt darin, dass niemand aufgefordert wurde, jemand anderen um eines höheren Zieles wegen umzubringen, sondern dass die Versuchspersonen lediglich dazu veranlasst wurden, jeweils eine kleine Stufe nach der anderen auf der nach oben offenen Skala der Gegenmenschlichkeit heraufzusteigen. Und das Sprechendste an diesem Experiment war vielleicht, dass die Versuchspersonen selbst am meisten darüber überrascht und verzweifelt waren, dass sie ohne weiteres dazu in der Lage waren, Stufe um Stufe weiterzugehen.

Nicht jeder Krieg bringt Genozide

Allerdings haben die Veränderungen der Versuchsanordnung gezeigt, dass dieses Experiment nur unter bestimmten Bedingungen seine tödliche Logik entfaltet: Variiert man die sozialen Parameter des Experiments, verringert sich die Quote der Gehorsamsbereiten und die Zahl der Verweigerer steigt an. Das ist das stärkste Argument dafür, dass die soziale Definition des Anderen tatsächlich zentral dafür ist, ob man sich für oder gegen die Unmenschlichkeit entscheidet; zugleich steht es gegen den anthropologischen Fehlschluss, dass Menschen eben so seien und dass der Firnis der Zivilisation dünn sei und sich bei Wegfall zivilisatorische Schranken das archaische Erbe Bahn breche, das eben im Rauben, Vergewaltigen und Totschlagen bestehe.


Gewalt ist sozial und historisch spezifisch, und zwar qualitativ wie quantitativ. Auch wenn bei der Erzeugung von Tötungsbereitschaft in unterschiedlichen Gesellschaften analoge Mittel eingesetzt und analoge Bedürfnisse freigesetzt werden können, unterscheiden sich die Massenmorde von Kiew oder Auschwitz von denen, die in Bosnien oder Ruanda stattgefunden haben. Und sie unterscheiden sich im übrigen von anderen Formen der Gewalt, und zwar nicht nur gegenüber der in Friedenszeiten ausgeübten, sondern auch gegenüber der, die im Rahmen kriegerischer Konflikte ansonsten angewendet wird. Nicht jeder Krieg bringt Genozide, ethnische Säuberungen, systematische Massenmorde hervor - nicht jeder geöffnete Handlungsraum zum erweiterten Anwenden von Gewalt eskaliert in Vorgängen, wie sie in diesem Buch geschildert wurden.

Das ist wichtig: obwohl Gewalt selbst Dynamiken freisetzt und Wirklichkeiten schafft, setzt sie doch nicht an sich ein bestimmtes Maß an Dynamik frei und schafft auch nicht dieselben Wirklichkeiten - was ja der Fall sein müsste, wenn wir es tatsächlich mit einem Vorgang zu tun hätten, an dessen Urgrund eine anthropologische Erklärung läge. Das einzige übrigens, was an Entscheidungen von Menschen anthropologisch ist, hat mit ihrer spezifischen Existenzform zu tun - dass sie nämlich hinsichtlich ihres Entwicklungs- und Handlungsraums nicht an artspezifische Instinkte und Lernbegrenzungen gebunden sind, wie sie für andere Tiere kennzeichnend sind. Die Anthropologie des homo sapiens sapiens besteht darin, dass er sich von seinen anthropologischen Bedingungen emanzipieren konnte und in der Lage war, sich Entwicklungsumgebungen zu schaffen, die vor allem sozial und kulturell bestimmt sind.

Menschen existieren in einem sozialen Universum, und genau deshalb sollte man tatsächlich alles für möglich halten. Es gibt keine natürliche oder auf sonstige Weise gezogene Grenze für menschliches Handeln, und wie die Kultur des Selbstmordattentats zeigt, gibt es sie nicht einmal dort, wo das Leben aufhört. Man sollte es daher für soziologische Folklore halten, wenn behauptet wird, dass Menschen Jagdinstinkte entwickeln, sich zu Meuten zusammenrotten und Bluträusche erleben, mit der beeindruckenden Begründung, dass das eben anthropologisch so sei. Gewalt hat historisch und sozial spezifische Formen und findet in ebenso spezifischen Kontexten der Sinngebung statt. Diese Kontexte unterliegen, wie wir gesehen haben, mit dem Fortgang der Gewalt selbst der Veränderung; die Technik des Tötens bleibt in diesem Prozess nicht dieselbe - sie wird verbessert, es entwickelt sich Routine, Know-how, man benutzt Handwerkszeug, Berufskleidung und führt Innovationen ein.

Alf Lüdtke hat an vielen Stellen die Verwandtschaft von Industrie- und Kriegsarbeit herausgestellt und deutlich gemacht, dass gerade in proletarischen Schichten man als "Arbeit" ansah, was man in anderer Funktion, etwa als Soldat oder Reservepolizist, tat. In den autobiographischen Zeugnissen solcher Männer, also in Feldpostbriefen und Tagebüchern aus dem zweiten Weltkrieg, finden sich Alf Lüdtke zufolge vielfältige Analogsetzungen von Krieg und Arbeit, was sich etwa in der Disziplin verkörpert, in der Monotonie von Vollzügen, sich aber auch in Bemerkungen äußert, "in denen eine militärische Aktion, d.h. das Zurückwerfen oder Vernichten des Gegners - also das Töten von Menschen und Zerstören von Material als gute Arbeit gilt". Lüdtke fast zusammen: "Gewalteinsatz, Gewaltandrohung, das Töten oder doch Schmerzzufügen ließ sich als Arbeit begreifen und damit als sinnvoll, zumindest als notwendig und unvermeidbar erfahren."

"Das kann man doch nicht machen"

Dass die Tötungsarbeit zwar als Zumutung, aber doch als unvermeidbar wahrgenommen wurde, tritt in den Vernehmungen der Täter klar zutage, ebenso wie das Akkordhafte, Mechanische, aber auch das Perfektionistische der Arbeit, schließlich die Arbeitsteiligkeit des Tötens selbst.

Solche Strukturanalogien haben ihre Grenze dort, wo Grausamkeit oder Lust am Töten zum bestimmenden Faktor beim Morden wird. Aber erst hier liegt tatsächlich der Punkt, an dem persönliche Dispositionen und psychologische Merkmale der einzelnen handlungsrelevant werden. Erst hier wird die Frage individuell, wie man mit einer Aufgabe umgeht, wie man sie sich aneignet, wie man die sich ergebenden Gelegenheitsstrukturen nutzt, wie man sich entzieht oder zu entziehen versucht oder wie man den mit der Arbeit verbundenen Stress bewältigt oder am Feierabend abbaut.

Wichtig bei all dem ist, dass jeder Beteiligte an jeder Stelle des Prozesses Deutungen vornimmt, und es ist diese unablässige Deutungsarbeit und Orientierung an sinngebenden Referenzrahmen, die das Durchhalten, Fortsetzen und Erweitern der Tötungsarbeit ermöglicht. Das aber bedeutet, dass an jeder Stelle des Prozesses von jedem Handelnden Entscheidungen gefordert sind, und dass jede Stelle einen spezifischen Spielraum dafür beinhaltet, sich so oder so zu entscheiden.

Und damit ist die empirische Frage aufgeworfen, warum diese Entscheidung so weit überwiegend zugunsten des Tötens ausfiel. Wenn man vor dem Befund steht, dass diejenigen, die sich anders entschieden haben, eine verschwindende Minderheit darstellen, wird man mit psychologischen Erklärungsversuchen vielleicht überhaupt nur dort weiterkommen, wo man etwas über diejenigen weiß, die sich im Sinne der nationalsozialistischen Moral abweichend verhalten haben.

Dazu gibt es aber bisher kaum aussagekräftige Untersuchungen - und alles vorliegende Material weist auf lediglich zwei Gründe, die für die Entscheidung gegen das Töten wichtig waren: der eine Grund besteht in der selbstverständlichen, basalen Form einer Alltagsethik, die sich in dem einfachen Satz formuliert: "Das kann man doch nicht machen!" Eine solche basale Ethik setzt ein hohes Maß an psychischer Autonomie voraus, handelte es sich doch bei einer Entscheidung gegen das Töten um eine fundamental von der sozialen und kulturellen Umwelt abweichende Haltung, die überdies mit Nachteilen für die eigene Existenz verbunden war. Autonomie, lehrt uns die Entwicklungspsychologie, ist ein psychisches Merkmal, das zentral mit dem Gelingen früher Bindungsprozesse zu tun hat, mit dem Gewinn von Urvertrauen, oder schlichter gesagt: mit der existentiellen Erfahrung von Glück.


Der zweite Grund, der Menschen zur Entscheidung gegen das Töten veranlasst, ist soziale Nähe, und das in zwei Hinsichten: Zum einen hatten viele der Helfer und Retter im Nationalsozialismus irgendeine Bezugsperson, die ihr Handeln unterstützt oder wenigstens gutgeheißen hat - das heißt, sie befanden sich nicht allein in einem sozialen Universum, das mit ihnen nicht übereinstimmte, sondern konnten sich eines gewissen Maßes an sozialer Unterstützung versichern. Zum anderen bestand meist in irgendeiner Form eine Nähe zu den Opfern, die oft situativ und zufällig entstand - so dass man insgesamt sagen kann, dass ein Opfer nur dann die unwahrscheinliche Chance auf eine vorläufige Rettung hatte, wenn es erstens auf eine Person traf, die zu autonomen Entscheidungen in der Lage und kein "Judenhasser" war und die sich zweitens irgendeiner sozialen Unterstützung für ihr Handeln versichern konnte. Drittens musste irgendeine Beziehung zu dieser Person herstellbar sein und viertens die situativen Umstände eine Unterstützung oder Rettung überhaupt zulassen. Diese soziale Konstellation gab es extrem selten.

Wir haben gesehen, dass die Täter gerade dann Skrupel mit ihrer Arbeit bekamen, wenn sich irgendeine Form von Beziehung zu den Opfern herstellte, eine Beziehung praktischer oder identifikatorischer Art. Deshalb waren die Täter umgekehrt ja auch auf Arrangements bedacht, die die größtmögliche Uniformität und Entindividualisierung der Opfer bedeuteten - das akkordhafte Töten nackter Menschen ist zweifellos die unpersönlichste Art des direkten Mordens. Die Tötungsarbeit selbst trägt dazu bei, den Anderen als irrelevant zu definieren; sie ist gewissermaßen der Beweis für seine Irrelevanz. Ihre Praxis führt dazu, "dass der andere gar nicht mehr in den Kategorien des Fühlens, Denkens, Handelns gesehen wird, die wir auf uns selbst anwenden. Das Leiden, der Tod des Opfers wird bedeutungslos, weil ihm nichts den Empfindungen des Täters Vergleichbares eignet. Selbst die Feststellung ‚ein Mensch tötet den anderen' ist dann eigentlich schon irreführend. Für den Täter gehört der andere gar nicht zu der gleichen Kategorie Lebewesen wie er selbst".

Kollektive Breitschaft zum Töten

Alles, was diese kategoriale Trennung infrage stellen oder gar aufheben könnte, gefährdet das Funktionieren der Tötungsarbeit. Es ist deshalb kein Zufall, dass die mechanisierte Tötung in den Vernichtungslagern den größten denkbaren sozialen Zwischenraum zwischen die Täter und die Opfer legte: Die Arbeit vor und hinter den Gaskammern wurde Sonderkommandos überlassen, die ihrerseits aus Häftlingen bestanden; das Ausgießen von Zyklon B in den Schacht über der Gaskammer war ein höchst distanzierter Akt, der keine physische Konfrontation zwischen Tätern und Opfern beinhaltete.

Das Buch
Harald Welzer: Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden. Frankfurt am Main: S. Fischer 20005. 336 S., gebunden 19,90 Euro. ISBN 3-10-089431-6
Während autobiographische Merkmale und psychische Dispositionen also interessant sein können, um Helferverhalten zu erklären, führen sie beim Täterhandeln nur dort weiter, wo die Spielräume der Tötungsarbeit individuell unterschiedlich ausgefüllt werden. Dagegen ist die grundsätzliche Teilnahmebereitschaft an allen möglichen Spielarten der Ausgrenzung, Entrechtung und Beraubung überhaupt kein individualpsychologisches Phänomen - und das gilt auch für das Herstellen kollektiver Tötungsbereitschaft, auch wenn sie von individuellen Tätern exekutiert wird.

Dossier: 60 Jahre Kriegsende

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Copyright © Frankfurter Rundschau online 2005
Dokument erstellt am 23.08.2005 um 16:04:03 Uhr
Erscheinungsdatum 24.08.2005

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